Als vor einigen Jahren in unserem Club die ersten Bilder aus dem Kamerawagen auf dem Bildschirm vor dem originalen Führerpult erschienen, fühlte sich der Hobby-Lokführer wie auf einer „richtigen“ Lokomotive (Beschreibung Führerstandsimulator). Der Führerpult stammte aus einem auf den Abbruch harrenden DZt Steuerwagen. Die Steuerung zur Simulation des Fahrverhaltens war das Resultat von Christians Semesterarbeit an der Hochschule Winterthur. Gemäss Kilometerzähler des Original-Geschwindigkeitsmesser sind mittlerweile über 10‘000 km gefahren worden, was auf der Modelleisenbahn beachtlichen 120 km entspricht!
Der anfangs eingesetzte Bildschirm wurde zwischenzeitlich durch eine Leinwand ersetzt, was das Realitätsgefühl weiter steigerte. Doch fehlte nach wie vor das Führerhaus – was die Krönung bedeuten würde. Gedanken wie der Bau einer Maquette aus Holz kamen auf, doch lieber wäre uns ein „Original“. Aber wie kommt man dazu?
Original-Führerstand
Als damals bekannt wurde, dass die mittlerweile bei der BLS immatrikulierten Prototypen der Re 4/4 II abgebrochen wurden, war es zu spät – die Schneidbrenner kamen uns zuvor! Um nächstes Mal schneller zu sein, nahmen wir Kontakt mit der SBB auf und schilderten unser Anliegen, denn vielleicht ergibt sich bei einer alters- oder unfallbedingten Ausrangierung eine Möglichkeit. Ende 2013 kam die lang ersehnte Nachricht, dass die Re 4/4 III mit der Betriebsnummer 11365 nach einem Unfall nicht mehr repariert werden soll. Anfangs Juli 2014 trat die dem Abbruch geweihte Lokomotive ihre letzte Reise an – den Weg zum Schrotthändler. Mit Erlaubnis der SBB und in Absprache mit dem Abbruchunternehmen durften wir alles von der Lokomotive abbauen, was uns hilfreich erschien. Es war so weit – der Startschuss für unser Projekt fiel!
Abbruch
Im Vorfeld der Abbrucharbeiten gab es einiges zu planen und vorzubereiten. Wir beschafften uns SLM-Originalpläne von SBB Historic, um festzulegen, wo wir die Trennscheiben anzusetzen hatten. Denn eines war klar: als Ganzes bringen wir den Führerstand nicht in unseren Keller. Der Lokkasten im Bereich des Führerstands musste in sechs grössere Teile zerlegt werden. Zudem soll alles ausgebaut und mitgenommen werden, was zum Führerraum und der Frontpartie gehört.
Mit dem geeigneten Werkzeug im Kofferraum ging es Richtung Basel zur Recycling-Firma, auf deren Areal die Abbruchlokomotive auf ihre Zerlegung warte. Drei Tage waren wir zu Dritt am Werk, bis schliesslich alle Teile demontiert, der Kasten in die gewünschten Grössen getrennt und alles für den Transport nach Flawil bereit war. Gesponsert und durchgeführt wurde dieser von Ruedi Lanker und seinem Transportunternehmen.
Am neuen Ort
Die Raumhöhe erlaubte, den Führerstand vom Umlaufblech bis 12 cm über die Dachkante einzubauen. Lediglich die Decke im Führerraum musste um 8 cm gesenkt werden, ansonsten behielt der Innenraum die Originalabmessungen. Die Breite von 3 m erfordert eine grosse Aufstellfläche, welche dank der grosszügigen Platzverhältnisse im Anlagen-Vorraum kein Problem darstellt.
Die auf dem Schrottplatz abgetrennten Teile wurden im Clublokal wieder zusammengenietet und verspachtelt, denn die Verschmutzung durch Schweissen und Schmirgeln wäre zu gross geworden. Nach dem roten Deckanstrich waren die Trennstellen nicht mehr sichtbar und der Lokkasten leuchtet im Rot, wie er es damals nach der Revision bei den SBB wohl auch getan hat.
Die Rückwand des Führerraums ist schwenkbar ausgeführt, was bei Anlässen mit grösserer Zuschauermenge einen Blick über die Schulter des Lokführers erlaubt.
Das Bild des Kamerazuges wird auf die 2,6 x 2 m grosse Rückprojektions-Leinwand vor dem Führerstand projiziert. Zur Abschirmung störenden Fremdlichts dienen Verdunkelungsvorhänge. Die seitliche Beleuchtung wird in Abhängigkeit der „Tageszeit“ gesteuert und verdunkelt auch, wenn der Zug in einen Tunnel einfährt.
Fahrgeräusche, das Rattern beim Befahren von Weichen, das Klicken des Stufenschalters, das Kreischen der Räder bei zu starkem Bremsen und viele andere akustische Details dürfen nicht fehlen. Eine Sound-Anlage mit fünf Lautsprechern wurde zu diesem Zweck eingebaut, um die Originalaufnahmen der Tonsequenzen aus einem wirklichen Führerstand widerzugeben.
Elektrische Ausrüstung
Der Führerpult erhielt die teilweise modifizierten Komponenten und eine neue Verdrahtung. Die Stirnlampen wie auch die Führerstandbeleuchtung wurden mit selbstgebauten LED-Beleuchtungskörpern ausgestattet. Zur Ansteuerung der zusätzlichen Funktionen war eine Erweiterung der bestehenden Rechnersteuerung erforderlich.
Umnummerierung
Einige noch fehlende Komponenten wie die rechte Frontscheibe, Loknummer, Lüftungsgitter und Türgriff erforderten eine weitere Suchaktion. Fündig wurden wir beim Industriewerk Bellinzona, welches uns erlaubte, bei der dort auf den Abbruch wartenden und bereits „rekuperierten“ Re 4/4 II 11274 jene Teile auszubauen, welche uns dienlich wären. Eine Reise in den Süden war angesagt und endete sehr erfolgreich, denn praktisch alle noch fehlenden Teile begleiteten uns auf dem Rückweg in den Norden. Erfreulicherweise waren auch die Ziffern der stirnseitigen Loknummer dabei. Kurzerhand wurde beschlossen, unsere Lok umzutaufen - das Kleid der 11365 trägt von nun an die Betriebsnummer 11274 und aus der Re 4/4 III wurde eine Re 4/4 II !
Inbetriebnahme
Ein halbes Jahr nach Beginn mit den Abbrucharbeiten gab es am Abend des 24. Februars 2015 die erste Probefahrt mit dem neuen Führerstand. Das Fahrgefühl ist überwältigend und wird auch zukünftig noch viel Fahrspass bereiten.
Das Arbeiten im Originalmassstab 1:1 machte Spass und war für einmal etwas anderes als in dem bei unserem Club sonst üblichen Massstab 1:87! Allen, die zum Gelingen des Führerstandprojekts beigetragen haben, sei an dieser Stelle herzlichst gedankt.